Neue Führung beginnt unter der Oberfläche

Warum es nicht reicht, zu wissen, was richtig ist…

In der Businesswelt reden wir oft über Führung. Über Haltung, Strategie, Wirksamkeit. Wir sprechen über Entscheidungen, Zielklarheit, Prioritäten. Was wir seltener betrachten: die tieferen Ebenen, von denen aus diese Entscheidungen eigentlich getroffen werden.
Denn so sehr wir an unsere rationale Steuerbarkeit glauben – in Wahrheit wirkt ein Großteil unseres Verhaltens unterhalb der bewussten Wahrnehmung. Das mag irritieren. Gerade für rationale Menschen, die gewohnt sind, mit dem Kopf zu führen.

Das Segelboot auf dem Ozean

Dr. Joe Dispenza – Neurowissenschaftler, Chiropraktiker und Autor – forscht seit vielen Jahren zur Verbindung von Gehirn, Emotion und Verhaltensveränderung. Sein Ansatz kombiniert moderne Neurobiologie mit Bewusstseinsarbeit – wissenschaftlich fundiert und dennoch tief erfahrbar. Er vergleicht unser Bewusstsein mit einem Segelboot – sichtbar, steuerbar, aktiv. Doch darunter liegt der Ozean: unser Unterbewusstsein. Gewaltig, tief, bestimmend.

Neurobiologisch gesehen entspricht das bewusste Denken dem präfrontalen Cortex – dem Bereich, der für Planung, Zielorientierung, Moral und Reflexion verantwortlich ist. Doch dieser Bereich ist energetisch aufwendig und extrem begrenzt in seiner Kapazität. Er verarbeitet nur einen Bruchteil der Reize, die täglich auf uns einströmen – und ist zudem schnell überlastet.

Im Vergleich dazu steuert das Unterbewusstsein – maßgeblich über das limbische System – den Großteil unserer alltäglichen Entscheidungen. Das limbische System ist reaktiv, emotional, blitzschnell – aber in seiner Komplexität eingeschränkt: Es kann keine Sprache verarbeiten, kein komplexes Szenario durchdenken, keine langfristige Strategie bewerten. Es bewertet schlicht: sicher oder bedrohlich? angenehm oder unangenehm? Auf dieser Basis entstehen viele unserer Entscheidungen – oft ohne, dass wir es bemerken.

Das Problem: In Führungssituationen reagieren wir dann aus Automatismen, nicht aus Bewusstsein. Wir ziehen uns zurück, kontrollieren, blockieren oder überreagieren – obwohl wir es „eigentlich besser wissen“. Und genau hier liegt der Hebel: nicht im Wissen, sondern im Gewahrsein.

Emotionen sind nicht zufällig – sie sind Muster

Was viele nicht wissen: Emotionen entstehen nicht einfach so. Sie sind das Ergebnis von inneren Programmen – also fest verankerten neuronalen Verschaltungen, die über Jahre entstanden sind. Diese Programme wurden geprägt durch unsere Biografie, durch Wiederholung, durch emotionale Intensität. Und sie wirken weiter: Ein Gedanke löst ein Gefühl aus. Das Gefühl formt unsere Wahrnehmung. Und die Wahrnehmung steuert unser Verhalten.

Im Extremfall greift der Körper zu bekannten Schutzstrategien: Flucht, Erstarren oder Angriff. Nicht aus Schwäche – sondern weil unser System auf „Gefahr“ schaltet. Führung, die solche Reaktionen nicht erkennt – weder im Team noch in sich selbst – bleibt auf der Oberfläche.

Was uns unter Druck wirklich triggert: Das SCARF-Modell als innerer Scanner

Der Neurowissenschaftler David Rock hat mit dem SCARF-Modell fünf grundlegende soziale Bedürfnisse beschrieben, die tief im limbischen System wirken: Status, Sicherheit, Autonomie, Zugehörigkeit und Fairness.

Was bedeutet das konkret für das Thema Führung? Wenn eines dieser Bedürfnisse verletzt wird – z. B. durch fehlende Anerkennung, Kontrolle von außen oder das Gefühl von Ungerechtigkeit – schaltet unser Gehirn unbewusst auf Alarm. Wir reagieren – auch in Meetings, Feedbackgesprächen, Veränderungsprozessen – oft nicht bewusst, sondern aus einem inneren Mangel heraus. Diese Faktoren wirken wie ein inneres Warnsystem.

Wer führt, sollte nicht nur die Inhalte steuern, sondern auch die emotionalen Rahmenbedingungen erkennen, in denen Menschen handlungsfähig bleiben – oder eben nicht. Das SCARF-Modell ist dabei mehr als ein Theoriegerüst. Es ist ein praktischer Kompass, um bewusst zu führen:

  • Status: Wie kann ich Wertschätzung zeigen – ohne Schmeichelei, sondern aufrichtig?

  • Sicherheit: Wie viel Orientierung gebe ich – auch in Phasen von Wandel?

  • Autonomie: Wo können Menschen selbst entscheiden, Verantwortung übernehmen?

  • Relatedness (Zugehörigkeit): Wo entsteht echte Verbindung im Team – nicht nur Kollaboration?

  • Fairness: Wie klar und transparent sind meine Entscheidungen, auch wenn sie unbequem sind?

Führung beginnt dort, wo wir bereit sind, diese Wirkkräfte ernst zu nehmen – nicht als Soft Skill, sondern als neurologisch verankerte Grundlage menschlicher Zusammenarbeit. Und wer sie bewusst nutzt, verändert nicht nur Verhalten – sondern Beziehung. Und damit Kultur.

Der Weg zur bewussten Führung

Die gute Nachricht: Veränderung ist möglich – aber nicht über Nacht. Wir können unser Gehirn aktiv umprogrammieren. Neuroplastizität bedeutet, dass neue neuronale Verbindungen entstehen können – durch Wiederholung, durch Achtsamkeit, durch neue emotionale Erfahrungen. Täglich entstehen sogar neue Nervenzellen – vor allem im Hippocampus, dem Zentrum für Lernen und Erinnerung. Aber: Diese Zellen brauchen Aktivierung, Verknüpfung, Bedeutung.

Das heißt: Neue Gedanken allein reichen nicht. Sie müssen bewusst gedacht, gefühlt, wiederholt und verkörpert werden. Nur dann entstehen neue Wege im Denken – und langfristig auch in der Führung.

Viele Führungskräfte glauben, sie müssten nur genug wissen, um richtig zu handeln. Aber Bewusstsein entsteht nicht im Kopf allein. Der Weg beginnt mit Verlangsamung. Mit dem Mut, die eigenen Muster zu erkennen, ins Bewusstsein zu holen und diese über ein Trainingsprogramm aktiv steuern lernen. Dann folgen Struktur, Wiederholung, Integration. Und irgendwann geschieht etwas Stilles, aber Entscheidendes: Führung beginnt von innen heraus. Nicht mehr als Reaktion auf Erwartungen. Sondern als Ausdruck innerer Klarheit.

Bewusstsein in Führung – wie es sich zeigt, wenn es da ist

Bewusste Führung erkennt man nicht an Titeln, Tools oder Schlagworten. Man erkennt sie an der Haltung, mit der Menschen sich selbst und andere führen. Eine Führungskraft, die aus Bewusstsein handelt, muss nicht alles kontrollieren – sie schafft Raum für Klarheit. Sie hört zu, bevor sie reagiert. Sie erkennt, dass jede Reaktion eine Geschichte hat – auch die eigene.

Sie begegnet anderen nicht aus der Position, sondern aus Präsenz. Sie erkennt, wenn sie selbst in alte Muster rutscht – und hat die innere Kraft, einen anderen Weg zu wählen. Nicht perfekt, aber wach. Nicht fertig, aber bewusst. Und vielleicht ist genau das heute das Mutigste in Führung: nicht der nächste Pitch, nicht das größere Ziel – sondern der Schritt nach innen. Dort, wo Verbindung entsteht. Wo Klarheit wächst. Und wo aus Führung wieder etwas Echtes wird.

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Quellenverzeichnis:

Bewusstsein, Unterbewusstsein & Entscheidungsverhalten

  • LeDoux, J. (1996): The Emotional Brain. Simon & Schuster.
    → Forschung zur unbewussten Reizverarbeitung (ca. 11 Mio. Reize vs. 40 bewusste pro Sekunde)

  • Kahneman, D. (2011): Thinking, Fast and Slow. Farrar, Straus and Giroux.
    → System 1 (schnell, unbewusst) vs. System 2 (langsam, bewusst)

  • Dispenza, J. (2014): Breaking the Habit of Being Yourself. Hay House.
    → Metapher: Segelboot & Ozean, Unterbewusstsein als emotional gesteuertes, speicherndes System

SCARF-Modell & NeuroLeadership

  • Rock, D. (2008): SCARF: A brain-based model for collaborating with and influencing others. NeuroLeadership Journal 1.
    → Beschreibung der fünf sozialen Trigger für Bedrohung oder Belohnung

  • NeuroLeadership Institute: https://neuroleadership.com
    → Hintergrund zu Leadership, Change, Emotional Regulation

Neuroplastizität & Veränderungsfähigkeit des Gehirns

  • Eriksson et al. (1998): Neurogenesis in the adult human hippocampus. Nature Medicine.
    → Ca. 700 neue Nervenzellen pro Tag im Hippocampus, neuroplastisches Potenzial im Erwachsenenalter

  • McKinsey & Company (2021): How to separate learning myths from reality.
    Link zur Studie → Neuroplastizität, Lernen & Führungsverhalten

Führungsverhalten & Selbstregulation

  • Boyatzis, R. & McKee, A. (2005): Resonant Leadership. Harvard Business Press.
    → Führung als emotional wirksamer, neurologisch fundierter Prozess

  • Siegel, D. (2010): The Mindful Brain. Norton.
    → Wie Achtsamkeit die Selbstregulation und neue neuronale Muster unterstützt

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